Von Kiel nach Berlin
Meine erste Radreise und zugleich
mein erster Besuch im Osten Deutschlands
1991. Gerade wurde ich dreiundzwanzig Jahre alt, bin vor etwa zwölf Monaten aus dem Ruhrgebiet nach Schleswig-Holstein gezogen - wollte ans Meer, wollte frische Luft - und stecke mitten in der Ausbildung zum Krankenpfleger an der Kieler Uniklinik.
Im September ergibt es sich, dass meine damalige Freundin Connie und ich ein paar Tage frei haben und wir spontan den Gedanken entwickeln, es doch mal zu versuchen, mit dem Rad nach Berlin zu fahren. So machen wir uns mit unseren klapprigen Dreigang-Vehikeln und zusammengeliehenen Packtaschen auf den Weg nach Osten.
Erste Überlegungen, es mal mit einer Radreise zu probieren, gehen auf das Jahr 1989 zurück. Es ist damals vor allem die Unabhängigkeit, die mir reizvoll erscheint - denn oft stört es mich, auf Busse oder Züge zu warten bzw. auf einen Autofahrer, welcher meinen hinausgestreckten Daumen wahrnimmt und mich ein Wegstück mitnimmt.
Mich stört das Diktat der Fahrpläne. Hätte man ein Fahrrad, dann könnte mal losrollen, wann man möchte, so lange wie man möchte, wohin man möchte. Klingt doch genial! Ich stelle schnell die einfache Rechnung auf, dass, wenn man jeden Tag nur ein paar Kilometer zurücklegt, auch irgendwann sein Ziel erreichen wird. Man hat dann ja auch den ganzen Tag nichts anderes zu tun.
Sport ist in dieser Zeit für mich überhaupt kein Thema (war es bis dahin auch noch nie wirklich), ganz im Gegenteil. Ich lege innerstädtische Kurzstrecken mit dem Rad zurück und gehe gerne mal spazieren, das ist es dann aber auch. Dennoch: vierzig, fünfzig Kilometer sollten doch als Tagewerk kein Problem sein, oder?
Ja, und so ist es dann auch auf der Fahrt nach Berlin. Freiheit und Unabhängigkeit begeistern mich. Ohne Probleme legen wir, trotz der vergleichsweise primitiven Ausstattung, meistens mehr als fünfzig Kilometer am Tag zurück… Ich genieße die sonnigen Spätsommertage an der frischen Luft und bin mir sehr schnell sicher, dass dies nicht meine letzte längere Radfahrt sein wird.
Ein Zelt haben wir nicht im Gepäck, für die Übernachtung suchen wir uns stets vor Ort feste Quartiere, also günstige Zimmer oder Jugendherbergen. In Berlin wohnen wir bei meinem Vater, der zu dieser Zeit geschäftlich dort zu tun hat und von seiner Firma eine hübsche Wohnung am Kurfürstendamm zur Verfügung gestellt bekommt.
Nicht nur der Umstand, dass ich nun mit dem Rad reise, hat Premierencharakter, nein, ich bin auch zum ersten Mal in Ostdeutschland und zum ersten Mal in Berlin!
Als Kind der Achtziger Jahre und des Kalten Krieges erfolgte meine Sozialisation in einer Zeit, da Ostdeutschland gedanklich sehr, sehr weit weg lag. Ein anderer Staat, sicher etwas suspekt, sicher nicht angsteinflößend, sicher auf Ewigkeit dort. Die fröstelnde Koexistenz der großen Militärblöcke war tägliche Normalität, in meiner Wahrnehmung allerdings stabil, nicht unmittelbar bedrohlich. Vor allem aber dachte ich: das wird immer so bleiben. So habe ich nach Beginn der friedlichen Revolution in der DDR zunächst überhaupt nicht verstanden, dass fast sofort und reflexartig der Ruf nach einer Wiedervereinigung laut wurde. Wieso das denn, dachte ich mir, kannte ich doch nichts anderes, als das Nebeneinander der beiden Staaten.
Das erste Mal in meinem jungen Leben hatte ich in dieser Zeit das Gefühl, Geschichte zu erleben. Und zwar als etwas, was gerade passiert, mit mir als einem kleinen Teil davon. Bislang assoziierte ich mit Geschichte vielleicht Schwarzweißaufnahmen vom letzten Krieg oder die Erzählungen der Großeltern, nie aber wirklich den aktuellen zeitlichen Kontext, in dem ich mich befand. Verwandtschaft in der DDR hatte meine Familie auch nicht, so schickten wir auch keine Pakete mit Jeanshosen und Schokolade nach dem Osten oder reisten mal über die Transitstrecke, so wie ich es von einigen Klassenkameraden hörte.
Und Berlin? Welche Bilder habe ich da im Kopf? Es ist für mich die Hauptstadt der Nazidiktatur, der bitteren Zerstörung bis 1945, ich denke an Blockade und Rosinenbomber, Kennedys legendäre Rede. Da ist die Mauer, es gibt Aufmärsche der Sowjetarmee mit einem winkenden Breschnew und einem winkenden Honnecker. Todesstreifen, Selbstschussanlagen. Ich denke an David Bowie und sein Heroes-Album und an "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo".
Vor diesem Hintergrund ist die Radtour, die mich nun erstmals nach Osten aus Schleswig-Holstein hinausführt noch einmal etwas ganz besonderes. Unterwegs in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg bin ich erschrocken, wie verwahrlost und marode, wie trist und farblos die Orte zumeist sind und oft erstaunt, wie dünn besiedelt einige Gegenden erscheinen.
Berlin beeindruckt mich durch seine Größe, auch hier bin ich wieder überrascht, wie heruntergewirtschaftet einige Ecken aussehen. Wir klappern alle Sehenswürdigkeiten ab, vom Reichstag zum Palast der Republik, über den Kudamm zur Gedächtniskirche, zum Brandenburger Tor, zum Alexanderplatz, zum Schloss Sanssoucis nach Potsdam, wir flanieren durch den Tiergarten, sehen die Siegessäule und und und…
Alles in allem erlebe ich eine erste kleine Radfahrt, die meinen Erfahrungs- und Erlebnishorizont zur damaligen Zeit erheblich erweitert. Eineinhalb Jahre später habe ich genug Geld beisammen, um mir ein gutes reisetaugliches Rad zu kaufen, dann geht es weiter: ich werde von Kiel nach Köln radeln und dann soll auch schon bald die erste Fahrt nach Island stattfinden…
Diese Notizen entstanden im Februar 2013.
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